Was würdest du mit deiner Zeit tun?
“Ich weiß gar nicht, was ich anderes arbeiten will und was ich überhaupt kann”, sagte kürzlich eine Klientin (nennen wir sie Vera) in einer 1:1 Coaching-Sitzung zu mir. Und ich fragte sie: “Was würdest du eigentlich mit deiner Zeit tun, wenn du es dir frei aussuchen könntest?” Ihre Antwort war zu Beginn unserer Sitzung glasklar: sie würde auf gar keinen Fall arbeiten. Doch im Verlauf der Sitzung ergab sich eine spannende Wende, was sehr überraschend für Vera war…
Was würdest du mit deiner Zeit tun, wenn du nicht arbeiten müsstest?
Die Antwort von Vera auf meine Frage, was sie mit ihrer Zeit tun würde, wenn sie es sich frei aussuchen könnte, war zu Anfang unserer Sitzung in etwa so: “Ich würde auf gar keinen Fall arbeiten, denn das ist ja wohl absolute Zeitverschwendung. Arbeiten tu ich nur, weil ich Geld zum Leben brauche. Aber wenn ich es mir frei aussuchen könnte, hätte ich genügend Geld und würde meine Lebenszeit nicht fürs Arbeiten verschwenden.” Klare Haltung findest du nicht?
“Aaaah spannend”, sagte ich und fragte weiter: “Was würdest du stattdessen tun mit deiner Zeit, wenn du nicht arbeiten müsstest?” Vera antwortete mir: “Ich würde ausschlafen und ganz ohne Wecker aufstehen und einfach schauen, wonach mir heute ist.” Sie machte eine laaange Pause…. Irgendwann fragte ich sie: “Hast du Lust auf ein kleines Gedankenexperiment?” Sie schaute mich etwas überrascht an und antwortete etwas zögerlich: “Ja, okay, bin gespannt."
Ich fuhr fort: “Schließ gerne deine Augen, wenn du magst. Vera nickte und schloss ihre Augen und ich sprach: Stell dir vor, dein Wunschleben ist wirklich wahr geworden. Du lebst dein Leben genauso wie du es willst. Alles, was du dir gewünscht hast, ist eingetroffen und du liebst, wie du deine Zeit verbringst. Und jetzt stell dir vor, es ist morgens. Du hast ausgeschlafen und wachst gemütlich auf. Du öffnest langsam deine Augen und schaust dich in der Umgebung um. Was siehst du jetzt im Moment? Wo befindest du dich gerade? Was machst du gerade? Wie sieht es bei dir aus?”
Und jetzt wurde es interessant. Auf Veras Lippen breitete sich ein seliges Lächeln aus und sie strahlte über das ganze Gesicht. Sie hielt ihre Augen geschlossen und spielte einen inneren Film ab. Sie erzählte, dass sie gerade in einem weichen Bett aufwacht mit salbeigrüner Bettwäsche, die nach “frisch gewaschen” riecht und aus dem Fenster ins Grüne blickt. Sie sieht ihren kleinen Garten. Sie hat Apfel- und Quittenbäume und ein kleines Gemüsebeet, worauf sie sehr stolz ist. Sie ist nicht allein zuhause. Sie riecht frisch gebrühten Kaffee. Ihr Partner ist zuhause. Sie begrüßt ihn mit einem Kuss. Er geht in die Dusche und Vera setzt sich erst mal auf die Veranda, um ihren Kaffee zu genießen. Draußen ist es herbstlich, die Sonne scheint und der Morgentau ist noch zu sehen. Vera hat heute einen Termin. Sie hilft einer super sympathischen Praxisinhaberin bei der Ausstattung und Einrichtung ihrer neuen Praxis. Vera ist heute Interior Designerin und hat ihre größte Leidenschaft zum Beruf gemacht und sie liebt es zu arbeiten….”
Also ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich bekomme allein beim Aufschreiben dieses Moments Gänsehaut…Okay zurück zu Vera.
Aber Moment mal, fragst du dich vielleicht. Hat Vera nicht zu Anfang noch gesagt, sie würde nicht mehr arbeiten, wenn sie es sich aussuchen könnte, weil das verschwendete Zeit ist? Gut aufgepasst! Genau das hat Vera anfangs zu mir gesagt.
Wenn man liebt was man tut, fühlt es sich weniger nach Arbeit an!
Ist das nicht spannend, dass Vera in ihrer Imagination doch gearbeitet hat und es sogar geliebt hat zu arbeiten? Und ist es nicht spannend, dass sie urplötzlich - ohne Grübeln und Listen (ihr kennt alle diese “50 Dinge, die ich liebe”-Listen) - ein ganz klares Bild vor Augen hatte von dem, was sie mag und so gut kann, dass sie diese Leidenschaft zum Beruf machen könnte? Erstaunlich findest du nicht?
Vielleicht braucht es an dieser Stelle eine kleine Erklärung, denn dass dieser innere Film für Vera möglich war, ist nicht nur Veras wunderbarer Imaginationsfähigkeit geschuldet (die tatsächlich sehr ausgeprägt ist :), sondern auch der Art meiner Fragestellung und Einladung auf einen inneren Suchprozess zu gehen (ein hypnosystemisches Vorgehen, wen es fachlich interessiert :). Dadurch konnte Vera sich in eine Art tranceartigen Zustand, eine Art “Lösungstrance” begeben und ohne große Anstrengung aus ihrem Inneren heraus sprechen. Und was kam da zum Vorschein? Na ihre tiefsten Wünsche, die sie sich vielleicht noch nie getraut hat, laut zu denken, geschweige denn von auszusprechen. Ist das nicht spannend?
Vielleicht wirst du jetzt überrascht sein, wenn du liest, dass Vera aktuell keinen Partner hat. Ihrer Ansicht nach gerät sie immer an den “Falschen” und die Vorstellung, mit jemandem zusammen zu leben, war für Vera bis zu diesem Zeitpunkt eher beklemmend, anstatt schön. In ihrer Wunschvorstellung hat sie einen Partner gesehen, mit dem sie scheinbar glücklich zusammenlebt. Du kannst dir sicher vorstellen, wie überrascht Vera selbst von diesem Aspekt ihrer Vision war.
Seine Leidenschaft zum Beruf machen?
Vielleicht wird es dich auch überraschen, dass Vera aktuell in einer Marketingabteilung tätig ist und absolut keinen beruflichen Bezug zu Interior Design hat. Doch privat ist das ihre größte Leidenschaft. Sie beschäftigt sich jede freie Minute mit Design, Raumgestaltung und ist ein richtiger Nerd für Farben und Kombinationen (was sich für mich auch in ihrem ausgefallenen Kleidungsstil zeigt). Und sie wird von Freunden immer wieder zu Rate gezogen, wenn es um Wohnungseinrichtungen geht. Für Vera selbst war es sehr spannend, dass ihr “nicht im Traum eingefallen” wäre (genauso waren ihre Worte), dass sie ihre Leidenschaft zum Beruf machen könnte. “Wie denn auch, das ist doch nur ein Hobby”, sagte sie zu mir.
Wie uns das Elternhaus in der Berufswahl prägen kann…
Da ich Veras familiäre Geschichte kenne, finde ich ihre Aussage “das ist doch nur ein Hobby” nicht sehr überraschend. Darauf mag ich kurz mal eingehen…
Schon als Kind malte, skizzierte und hantierte Vera mit Farben, Stoffen und Materialien. Vera kann sich an nichts anderes erinnern, was sie lieber tat. Irgendwann kam der Punkt, dass sie als frühpubertäre Jugendliche mit der Ausbildungs- und Studiumfrage konfrontiert war. Sie sagte ihren Eltern voller Stolz und Begeisterung, sie möchte Designerin werden und dass es eine private Schule gibt. Hierfür müsste sie aber umziehen. Veras Eltern lachten und als sie anfing zu weinen, waren sie verärgert, weil sie verstanden, dass es ihr Ernst mit dieser Idee war. Sie schmetterten ihren Berufswunsch mit den Worten ab: “Designerin ist kein Beruf, mit dem man Geld verdient. Designer wird man, weil man reich geboren wird und einen Namen hat. Kein normaler Mensch kann davon leben. Das ist nur eine Spielerei. Such dir etwas Anständiges und Richtiges aus, was du erlernen kannst.”
Ich glaube, ich brauche nicht zu erwähnen, wie niederschmetternd diese Worte für die kleine Vera waren. Sie schämte sich für diesen albernen, naiven Wunsch, ließ das Zeichnen und ihre gesamte Leidenschaft bleiben und rührte nie wieder einen Zeichenblock an. Was glaubst du, wie ging es weiter mit der kleinen Vera? Ich sag es dir. “Es ging bergab”, so waren jedenfalls Veras Worte.
Sie schwänzte die Schule, schrieb nur noch 5er, blieb sitzen und schaffte mit Ach und Krach ihren Realschulabschluss, fing dann zwei Ausbildungen an, die sie abbrach und landete erst mit Mitte 20 im Kommunikationsdesign. Sie zog das Studium schleppend durch und schloss es mittelmäßig ab. Alles, was im Studium mit Design zu tun hatte, saugte sie fasziniert auf. Doch dabei blieb es auch. Sie ging in ein mittelständisches und wie Vera es nennt “langweiliges” Unternehmen mit einer 0-8-15 Marketingabteilung wie aus dem letzten Jahrhundert und einem cholerischen Chef, der alle Mitarbeitenden von früh bis spät herum hetzte, nieder machte und anschrie… Nach und nach kündigten alle Kolleg:innen, mit denen Vera sich gut verstanden hatte.
Was glaubst du machte Vera? Ich sag es dir: Vera blieb über viele Jahre. Und was glaubst du, was ihre guten Gründe waren? Hmmmm…. Vielleicht blieb sie, weil sie als kleines Mädchen verinnerlicht hat, dass Arbeiten auf keinen Fall Freude machen darf. Vielleicht hat sie den Mut verloren einem wirklichen Wunsch ernsthaft nachzugehen. Vielleicht hat sie als kleines Mädchen verinnerlicht, dass sie einfach nicht gut genug ist und aufhören soll zu träumen. Das wären zumindest drei Hypothesen von mindestens 28. Vielleicht hast du gerade ganz andere Hypothesen im Kopf.
Was wir wissen ist: wir wissen es nicht! :) Und das ist das Wunderbare am systemischen Denken. Es gibt hier keine “Wenn-Dann” oder “Kausalitäts-Aussagen”, denn dafür sind wir Menschen viel zu komplex und jeder für sich einzigartig. Aber wir dürfen Hypothesen bilden und auf einen inneren Suchprozess gehen, wenn dieser uns für eine Lösung dienlich ist. Aber jetzt zurück zu Vera.
Mit Vision zur Klarheit und Entschlossenheit
Nun, Vera weiß mittlerweile ganz genau, was sie mit ihrer Zeit tun möchte, wie sie leben und arbeiten will. Sie ist gerade auf dem Weg, ihren Lebensentwurf umzukrempeln….und ihre Vision, in der sie tatsächlich Freude und mit Liebe arbeitet, in die Realität umzusetzen. Und ich bin überglücklich, dass ich sie auf diesem spannenden Weg begleiten darf.
Hast du dich schon mal gefragt, was du tun würdest mit deiner Zeit, wenn du es dir (vielleicht heute) völlig frei aussuchen könntest? Ich bin so gespannt, was deine Antwort ist und freu mich, wenn du sie mit mir teilst :) Schreib mir sehr gerne an hallo@julianafrank.com.